- Außergerichtliche Klärung verweigert: Auch wer nicht Vater ist, muss Kosten des Abstammungsverfahrens mittragen
Wenn gerichtlich festgestellt werden muss, von welchem Vater ein Kind abstammt, entstehen oft erhebliche Kosten durch die Begutachtung aller Beteiligten (Mutter, Kind und die möglichen Väter). Im Folgenden war das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) mit der Frage betraut worden, wer diese Kosten tragen muss, wenn am Ende keine Vaterschaft feststellbar ist.
Es ist jedenfalls nicht das Kind, selbst wenn es formal den Antrag gestellt und später zurückgenommen hat. Das ergibt sich nicht aus dem Gesetz. Denn dieses kennt zwar die Vorschrift (§ 81 Abs. 3 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit), dass einem minderjährigen Beteiligten keine Kosten auferlegt werden können - diese bezieht sich aber nur auf Kindschaftssachen, nicht auf Abstammungssachen. Dennoch sei von einer Kostenlast für Kinder auch in anderen familiengerichtlichen Verfahren nur sehr zurückhaltend Gebrauch zu machen, urteilte das OLG. Eine Beteiligung des Kindes an den Kosten seines Abstammungsverfahrens sei regelmäßig unbillig, da es selbst nicht zur Unsicherheit über die Vaterschaft beigetragen oder Anlass zur Verfahrenseinleitung gegeben habe. Das Kind habe einen Anspruch auf Klärung seiner Abstammung. Bestehen Unklarheiten darüber, wer sein Vater ist - und ergreifen weder die Mutter noch der potentielle Vater die Initiative, die Vaterschaft außergerichtlich zu klären -, ist das Kind gezwungen, ein Verfahren zur Klärung seiner Abstammung einzuleiten. Somit entspreche es nicht der Billigkeit, das Kind mit den daraus entstehenden Kosten zu belasten.
Übrig blieb die Frage, ob auch ein Mann, der zwar als Erzeuger in Betracht kam, aber letztlich nicht als Vater festgestellt wurde, mit Kosten belastet werden darf. So war es in diesem Fall. Der Mann hatte im Anhörungstermin vor dem Amtsgericht (AG) eingeräumt, innerhalb ihrer Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit der Mutter gehabt zu haben. Er kam deshalb als Vater des Kindes durchaus in Betracht. Nachdem die Vaterschaft durch das vom AG eingeholte Sachverständigengutachten "eindeutig ausgeschlossen werden" konnte, hatte das antragstellende Kind seinen Antrag zurückgenommen.
Warum der Mann in Augen des OLG dennoch an den Kosten zu beteiligen war? Ganz einfach: Weil er zu einer außergerichtlichen Untersuchung der Abstammung nicht bereit gewesen war. Die Kindesmutter war an den Kosten des Verfahrens schon deshalb zu beteiligen, weil ihr - wie das Ergebnis des Abstammungsgutachtens zeigt - bewusst gewesen sein muss, dass nicht allein der Antragsgegner als Vater des Kindes in Betracht komme. Damit hatten beide beteiligten Erwachsenen zur Unklarheit der Vaterschaft beigetragen. Daher entspricht es nach erfolgloser Vaterschaftsfeststellung regelmäßig der Billigkeit, die Gerichtskosten zwischen ihnen aufzuteilen - beide mussten ihre Anwälte selbst bezahlen.
Hinweis: Ein privat außergerichlich eingeholter Vaterschaftstest kostet nur einen Bruchteil und kann die Fakten klären, bevor man ein gerichtliches Abstammungsverfahren einleitet. Es ist allerdings verboten, diesen Test heimlich durchzuführen, indem man sich zum Beispiel die DNS vom Kind oder vom möglichen Erzeuger verschafft. Das Gericht kann die Begutachtung auch gegen den Willen Beteiligter anordnen.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 10.11.2022 - 10 WF 45/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- BVerfG sieht keine Grundrechtsverletzungen: Zweijähriger Umgangsausschluss nach Kindeswohlprüfung im Ordnungsgeldverfahren rechtens
Sebstverständlich sollten gerichtliche Entscheidungen Verlässlichkeit geben. Dennoch gibt es Fälle, deren Umstände neu bewertet werden müssen, sobald sich besonders beim Verdacht der Kindeswohlgefährung neue Anhaltspunkte auftun. Was hier zuerst im Interesse eines Kindesvaters in Form eines titulierten Umgangs positiv bewertet, aber nach Auftauchen neuer Verdachtsmomente erst durch das Familiengericht des Amtsgerichts Lüdenscheid (FamG) und dann durch das Oberlandesgericht Hamm (OLG) revidiert wurde, trug der Mann schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor. Zu Recht? Lesen Sie selbst.
Ein Vater hatte lange um Umgang mit seinem Kind gekämpft und im Mai 2020 wöchentlichen begleiteten Umgang erreicht. Die Mutter wirkte hieran jedoch erneut nicht mit, so dass die meisten der Termine ausfielen. Der Vater beantragte daher Zwangsvollstreckung und Ordnungsgeld gegen die Mutter. Im Laufe des Zwangsmittelverfahrens glaubte das FamG aber den Behauptungen der Mutter, dass es nach den wenigen Vater-Sohn-Kontakten immer zu Verhaltensauffälligkeiten des Kindes (Einnässen) gekommen war und dass das Kind den weiteren Umgang verbal ablehnte.
Es wurde daher ein neues Umgangsverfahren eingeleitet, in dem ein Sachverständiger tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung durch den Umgang feststellte. Daraufhin schloss das OLG im Dezember 2020 den Umgang für zwei Jahre komplett aus. Hiergegen wandte der Vater sich an das BVerfG - allerdings erfolglos.
Normalerweise findet im Vollstreckungs- und Ordnungsmittelverfahren keine Kindeswohlprüfung mehr statt, weil die Rechtskraft eines Beschlusses sonst durchbrochen würde. Wenn der titulierte Umgang aber offenkundig mit einer Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes (im Sinne des § 1666 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch) verbunden wäre, muss die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung eingestellt werden, in einem neuen Verfahren das Kindeswohl geprüft und erneut über den Umgang entschieden werden. Das FamG und das OLG hatten das korrekt gehandhabt, weshalb das BVerfG keine Grundrechtsverletzung des Vaters sah.
Hinweis: Wie die meisten Verfassungsbeschwerden scheiterte auch diese daran, dass die Grundrechtsverletzung des Vaters nicht ausreichend begründet worden war. Das BVerfG prüft nicht selbst das Kindeswohl, sondern nur, ob Verfahrensfehler der Vorinstanzen zu Grundrechtsverletzungen geführt haben.
Quelle: BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 - 1 BvR 1496/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- Neu ab 2023: Notvertretungsrecht von Ehegatten
Eheleute können sich im Notfall gegenseitig vertreten, bekommen medizinische Auskünfte und haben Entscheidungsrechte? Diese Thesen gehörten zu den typischen Irrtümern im Familienrecht - bislang! Denn nun, mit dem 01.01.2023, hat das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts ein Ehegattennotvertretungsrecht mit einer Maximaldauer von sechs Monaten eingeführt.
Dieses Notvertretungsrecht beginnt, wenn ein Ehegatte oder eingetragener Lebenspartner aufgrund von Bewusstlosigkeit oder Krankheit handlungsunfähig wird und ein Arzt das bescheinigt. Die Regelung gilt für Ehegatten bzw. eingetragene Lebenspartner, die nicht getrennt voneinander leben. Dabei ist eine Heimunterbringung kein Getrenntleben, sofern sich keiner von beiden mit Trennungswillen von der Ehe abwendet.
Der Ehegatte des oder der Betroffenen muss dem Arzt unterschreiben, dass er nicht getrennt lebt, nichts von vorrangiger Vorsorgevollmacht, Betreuung und dergleichen weiß und die Sechsmonatsfrist nicht bereits durch eine andere Bescheinigung eines Arztes begonnen hat.
§ 1358 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 Bürgerliches Gesetzbuch zählt abschließend die Angelegenheiten der Gesundheitssorge auf, in denen eine Vertretung durch Ehegatten erfolgen kann. Das sind typische Entscheidungen und Maßnahmen während einer sogenannten Akutphase. Er erfasst neben den der Gesundheitssorge im engeren Sinne dienenden Maßnahmen auch Rechtsgeschäfte, die im engen Zusammenhang mit der Gesundheitssorge stehen und häufig zügig nach dem Beginn der Handlungsunfähigkeit anfallen. Aus dem Gesetzeszweck und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt sich eine Beschränkung auf unaufschiebbare Maßnahmen und auf das, was medizinisch notwendig ist (z.B. keine Schönheits-OP).
Folgende Einschränkungen gilt es jedoch zu beachten:
- Das Notvertretungsrecht erlischt, wenn die vertretene Person wieder fit ist, oder spätestens nach sechs Monaten. Diese Frist startet mit der ärztlichen Bescheinigung der Einwilligungsunfähigkeit und beginnt nach lichten Momenten (z.B. bei Demenz) nicht erneut. Allerdings kann die Frist durch eine neue Krankheit (z.B. zuerst Verkehrsunfall, dann Schlaganfall) wieder neu beginnen bzw. sich verlängern.
- Der Ehegatte kann die Vertretung auch ablehnen. In solchen Fällen wird dann ein Betreuungsverfahren eingeleitet.
- Wenn es eine Vorsorgevollmacht oder gar eine gerichtlich angeordnete Betreuung für die Gesundheitsfürsorge gibt, scheidet das Ehegattenvertretungsrecht aus.
- Das Vertretungsrecht umfasst nur Untersuchungen des Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe sowie damit in Zusammenhang stehende Verträge und die Geltendmachung von Rechten - zum Beispiel bei Versicherern. Ärzte haben keine Schweigepflicht gegenüber dem Ehegatten (Apotheker und andere Gesundheitsberufe sind im Gesetz nicht genannt).
- Das Notvertretungsrecht räumt keine Kontovollmacht ein, so dass ohne eine vorher explizit erteilte Vollmacht oder ohne eine bereits erfolgte Errichtung eines gemeinsamen Kontos keine Rechnungen beglichen werden können.
Hinweis: Der Rat, lieber eine individuelle Vorsorgevollmacht zu errichten, bleibt aktuell. Denn das Ehegattenvertretungsrecht ist sowohl inhaltlich als auch zeitlich beschränkt.
(aus: Ausgabe 02/2023)
- Privatschule als Mehrbedarf: Wer mit der Schulwahl einverstanden ist, muss auch mitbezahlen
Dem Bedarf von Kindern nach der Düsseldorfer Tabelle liegt gedanklich ein Warenkorb zugrunde, der das enthält, was Kinder in den durch das Einkommen der Eltern vorgegebenen Verhältnissen typischerweise benötigen. Weil dieser Korb individuell gefüllt ist - das eine Kind hat teure Hobbies, das andere besondere Ernährungsbedürfnisse -, ist es nicht immer leicht zu bestimmen, was in den Tabellenbeträgen als Elementarbedarf enthalten und was als Sonder- und Mehrbedarf anzusehen ist. Diese Frage war im Folgenden ein Fall für das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG).
Konkret handelte es sich hier um das Schulgeld für einen Grundschüler. Der Vater zahlte an die Mutter Unterhalt nach dem damaligen (2019) Höchstsatz der Düsseldorfer Tabelle. Die Eltern hatten sich gemeinsam für eine Privatschule entschieden und zusammen den Schulvertrag unterschrieben. Die Kosten beliefen sich auf rund 4.000 EUR Schulgeld und knapp 800 EUR Essensgeld pro Jahr. Zuerst verklagte die Mutter den Vater auf die Hälfte der Kosten, dann wollte sie eine höhere Quote. Der Vater wollte sich am Schulgeld gar nicht beteiligen. Dass er den Schulvertrag unterschrieben habe, bedeute nicht, dass er Kosten tragen müsse. Die Privatschule sei nicht notwendig. Mit diesem Argument kam er weder beim Amtsgericht noch beim OLG zum Ziel.
Die Frage der Notwendigkeit des Besuchs einer Privatschule stelle sich dem OLG entgegen der Auffassung des Vaters nicht. Denn mit der Unterzeichnung des Schulvertrags habe dieser dem Besuch bereits vorbehaltlos zugestimmt. Der mit dieser Grundentscheidung einverstandene Vater müsse folglich dann auch die Rechtsfolgen tragen. Das Essensgeld sei allerdings kein Mehrbedarf, denn die Verpflegung der Kinder sei im Elementarwarenkorb zweifelsohne enthalten. Das Schulgeld selbst sei aber durchaus ein Mehrbedarf, und an einem solchen muss sich auch der Elternteil beteiligen, bei dem das Kind wohnt - allerdings nicht zur Hälfte, sondern im Verhältnis der beiderseitigen Einkünfte der Eltern. Daraus ergaben sich hier rechnerisch 74 % für den Vater.
Hinweis: Mehrbedarf ist der Teil des Lebensbedarfs, der regelmäßig während eines längeren Zeitraums anfällt und das Übliche derart übersteigt, dass er beim Kindesunterhalt nicht oder nicht vollständig erfasst werden kann, aber kalkulierbar ist. Im Gegensatz zum Mehrbedarf kann Sonderbedarf nur wegen eines unregelmäßigen, außergewöhnlich hohen Bedarfs verlangt werden. Sonderbedarf ist ein unregelmäßig auftretender, außergewöhnlich hoher Bedarf, der nicht auf Dauer besteht und nicht vorhersehbar war, so dass hierfür keine Rücklagen gebildet werden konnten. Wie bei Mehrbedarf haften die Eltern auch für den Sonderbedarf anteilig nach § 1606 Abs. 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 08.11.2022 - 13 UF 24/21(aus: Ausgabe 02/2023)
- Unanfechtbarer Beweisbeschluss: Angeordnetes Gutachten kann erst mit Rechtsmitteln in Folgeinstanz angefochten werden
Um in Kindeswohlfragen entscheiden zu können, lassen Familienrichter sich häufig von einem Sachverständigengutachten leiten. Die Eltern, die Gegenstand der Begutachtung sein sollen, sind damit nicht immer einverstanden. Ob ein Elternteil zur Mitarbeit gezwungen ist oder bereits die Gutachtenerstellung verhindern kann, war im folgenden Fall vom Brandenburgischen Oberlandesgericht (OLG) zu beantworten.
Eine Mutter, die unbegleiteten Umgang mit ihrem Kind haben wollte, legte Beschwerde gegen den Beweisbeschluss ein, mit dem ein Sachverständiger beauftragt worden war. Sie meinte, das Gutachten sei nicht erforderlich, weil der Richter im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht selbst alle notwendigen Erkenntnisse gewinnen könne. Überdies gefielen ihr weder die Ausbildung des Sachverständigen noch die an ihn gerichteten Fragestellungen.
Die Beschwerde wurde vom OLG als unzulässig zurückgewiesen. In der laufenden Instanz sind Beweisbeschlüsse unanfechtbar. Das Gericht wies darauf hin, dass die Mutter weder eine Untersuchung ihrer Person dulden noch sonst wie mitwirken müsse. Sie sei auch nicht verpflichtet, Schweigepflichtsentbindungen zu erteilen. Es stehe ihr frei, über das Gericht dem Sachverständigen die Informationen zukommen zu lassen, die sie ihm geben wolle. Der Gutachter müsse dann sehen, zu welchen Erkenntnissen er allein aufgrund des Akteninhalts und eventuell ergänzender Informationen des Jugendamts kommen könne. Das Familiengericht müsse dann auf dieser Basis entscheiden. Deshalb verletzte der Beweisbeschluss die Mutter hier nicht in ihren Rechten. Denn nach Abschluss der ersten Instanz habe die Mutter Rechtsmittel und könne in zweiter Instanz die auf Basis der Feststellungen des Sachverständigen ergangene Entscheidung anfechten und inhaltlich kritisieren.
Hinweis: Es gibt seltene Fälle, in denen Beweisbeschlüsse isoliert anfechtbar sind - nämlich wenn die Ausführung des Beweisbeschlusses eine unmittelbare und auf andere zumutbare Weise nicht abwendbare Verletzung von Grundrechten zur Folge hat, die später nicht oder nicht vollständig behoben werden kann. Bei Begutachtungen ist der Fall nicht denkbar, weil eine Mitwirkungspflicht nicht Teil des Beschlusses ist.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 21.11.2022 - 13 WF 184/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- "Lukrativer" Streifschaden: Ungewöhnliche Anhäufung typischer Umstände ohne Zeugen spricht für Manipulation
In den seltenen Momenten, in denen einfach mal alles passt, sollte man sich im Leben glücklich schätzen. Gerichten allerdings kommen zu perfekte Umstände verdächtig vor, denn auch sie kennen das Leben und vor allem die Beweggründe, die Fremde vor eben jenen Gerichten zusammenführt, nur allzu gut. Mit einem solchen merkwürdig anmutenden Fall hatte kürzlich das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG) zu tun, das einen Kraftfahrzeugschaden auf Betreiben der zuständigen Versicherung unter die Lupe nehmen musste.
Ein (angeblich) Geschädigter meldete sich bei der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers. Er legte ein Gutachten über einen seitlichen Streifschaden an seinem Fahrzeug vor. Es wurde behauptet, der Schaden sei auf einem Supermarktparkplatz geschehen. Der Verursacher sei beim Einparken neben dem geschädigten Fahrzeug vielleicht aufgrund von Glättebildung seitlich an dem geschädigten Fahrzeug vorbeigeschrammt, sei dann noch einmal aus der Lücke herausgefahren und habe das Fahrzeug erneut geschliffen. Zeugen gebe es keine. Die Versicherung wandte ein, dass ein manipulierter Unfall vorliege, und verweigerte die Zahlung.
Das OLG war mit der Versicherung einer Meinung. Zum einen sei ein für Manipulationen typischer Unfallort gegeben - ein einsamer Parkplatz ohne Zeugen. Das Schadensbild lasse ferner den Rückschluss zu, dass es einer besonders ungewöhnlichen Fortbewegung bedurfte, um den vorliegenden Schleifschaden herbeizuführen. Manipulierte Unfälle würden typischerweise mit langsamer Geschwindigkeit inszeniert, damit eine kontrollierte Vorbeifahrt möglich ist. Dadurch lasse sich ein langer Streifschaden erzeugen, dessen Abrechnung besonders lukrativ sei. Bei einem normalen langsamen Rangieren auf einem Parkplatz würde nach der ersten Berührung der Fahrzeuge üblicherweise sofort angehalten. Laut Sachverständigem sei der Schaden auch nicht mit einer Glättebildung zu erklären, da dann ein Anstoß zu sehen sein müsse. Vielmehr spreche das Schadensbild dafür, dass der Fahrer zweimal an dem Wagen entlanggeschliffen sein muss, so dass davon auszugehen sei, dass der zweite Berührungsvorgang vorsätzlich gewesen sei. Auffällig sei weiterhin, dass der Geschädigte zwar ein Foto von einem Zettel machte, auf dem angeblich die Telefonnummer des Schädigers stand, nicht aber von der Stellung seines Autos. Zudem sei der Zettel später nicht mehr auffindbar gewesen.
Hinweis: Der Beweis einer Einwilligung und damit eines fingierten Unfalls ist geführt, wenn sich der "Unfall" als letztes Glied einer Kette gleichförmiger Geschehnisse darstellt, ohne dass sich die festgestellten Gemeinsamkeiten noch durch Zufall erklären ließen. Zum Beweis einer behaupteten Einwilligung sind Indizien, also mittelbare Tatsachen, die geeignet sind, logische Rückschlüsse auf den unmittelbaren Beweistatbestand einer erteilten Einwilligung in die Eigentumsbeschädigung zu ziehen, darzulegen und zu beweisen. Der Beweis der Unfallmanipulation ist regelmäßig durch den Nachweis einer ungewöhnlichen Häufung typischer Umstände geführt, wenn diese in ihrem Zusammenwirken vernünftigerweise nur den Schluss zulassen, der geschädigte Anspruchsteller habe in die Beschädigung seines Fahrzeugs eingewilligt.
Quelle: Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 12.10.2022 - 7 U 62/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- Anhörung nach sieben Wochen: Wer sich nicht auf Erinnerungslücken beruft, muss mit Anordnung einer Fahrtenbuchauflage leben
Ob sich bei der Leserschaft dieses Beitrags künftig vermehrt Gedächtnislücken bemerkbar machen werden, bleibt allein schon deshalb nicht zu hoffen, da sie sich bestimmt mehrheitlich an die Straßenverkehrsordnung hält. Doch der springende Punkt macht den Fall des Verwaltungsgerichtshofs München (VGH) nach einer festgestellten Geschwindigkeitsübertretung so interessant: Die Benachrichtigung ging dem Fahrzeughalter nicht innerhalb der eigentlich üblichen Zweiwochenfrist zu. Und diesen Fakt hätte er im Anhörungsbogen besser für sich nutzen können, als er es getan hat.
Im Juni 2021 wurde mit einem Pkw innerorts eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 40 km/h festgestellt. Sieben Wochen später wurde der Halter des Fahrzeugs mit der Aufforderung, den Fahrzeugführer zu benennen, angeschrieben. Dieser teilte mit, dass ihm der Fahrzeugführer nicht bekannt sei. Gegenüber der Polizei wurde weiterhin geäußert, dass er sich nicht zur Sache einlassen werde. Das Bußgeldverfahren wurde daraufhin eingestellt und dem Halter eine Fahrtenbuchauflage für zwölf Monate erteilt. Der Antragsteller wandte sich jedoch gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs. Er vertrat die Auffassung, dass die Behörde ihn spätestens zwei Wochen nach dem Vorfall hätte anschreiben müssen.
Der VGH hat den Antrag zurückgewiesen. Zwar gehört zu einem angemessenen Ermittlungsaufwand grundsätzlich die unverzügliche (in der Regel innerhalb von zwei Wochen) durchzuführende Benachrichtigung des Fahrzeughalters von der mit seinem Kraftfahrzeug begangenen Zuwiderhandlung. Der Grund hierfür ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Fahrzeughalter die Frage nach dem Fahrzeugführer noch zuverlässig beantworten kann, die mit zunehmendem Zeitabstand geringer wird. Diese Frist hatte die Behörde mit ihrer erstmaligen Anhörung sieben Wochen nach der Tat auch deutlich überschritten. Allerdings war diese Nichteinhaltung der Zweiwochenfrist unschädlich, wenn sie für die Nichtfeststellung des Fahrzeugführers nicht kausal ist - etwa weil die Ergebnislosigkeit der Ermittlungen nicht auf Erinnerungslücken des Fahrzeughalters beruht. Schließlich habe der Antragsteller als Reaktion auf die verspätete Anhörung keinerlei Erinnerungslücken geltend gemacht, sondern auf dem von ihm zurückgesandten Anhörungsbogen handschriftlich vermerkt, dass ihm der Fahrzeugführer nicht bekannt sei.
Hinweis: Die Fahrtenbuchauflage soll als Maßnahme zur vorbeugenden Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs gewährleisten, dass zumindest für die Dauer der Verpflichtung mit dem Fahrzeug begangene Verstöße geahndet werden können und der Fahrer ohne Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Auch ein erst- oder einmaliger Verkehrsverstoß von erheblichem Gewicht kann unabhängig von der konkreten Gefährlichkeit eine Fahrtenbuchauflage rechtfertigen. Dies wird in der Regel angenommen, wenn der Verstoß mit mindestens einem Punkt nach dem Fahreignungsbewertungssystem bewertet wird.
Quelle: VGH München, Beschl. v. 13.10.2022 - 11 CS 22.1897(aus: Ausgabe 02/2023)
- Auffahrunfall: Kann der Anscheinsbeweis nicht glaubhaft widerlegt werden, haftet der Auffahrende
Einen Klassiker im Verkehrsrecht musste das Landgericht Hamburg (LG) bewerten, und zwar den Auffahrunfall. Dass eben jener sich mehrheitlich so verhält, dass für dessen Entstehung der Hintere auf den Vorderen aufgefahren ist, setzt die allgemeine Lebenserfahrung voraus. Wer diesem ersten Anscheinsbeweis entgegentreten möchte, braucht jedoch gute Argumente - die Bestätigung des Ehepartners allein reicht dafür nicht aus.
Zwei Autofahrer fuhren im Fließverkehr hintereinander, als es plötzlich zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge kam. Wie es dazu kam, blieb jedoch strittig. Der Auffahrende behauptet seinerseits, dass der Vordermann plötzlich rückwärts gefahren sei, was von seiner Ehefrau bestätigt wurde. Der Vordermann hingegen bestritt dies und behauptet, der Hintermann sei ihm schlicht und ergreifend aufgefahren.
Das LG gab der Versicherung des Vordermanns Recht. Im vorliegenden Fall steht fest, dass die beiden beteiligten Fahrzeuge zunächst im Fließverkehr hintereinanderfuhren - und zwar üblicherweise vorwärts. Kommt es dann zu einer Kollision, müsse man im Allgemeinen davon ausgehen, dass der Hintere dem Vorderen aufgefahren sei. Um diesen Anscheinsbeweis zu entkräften, reiche es nicht aus, ein Rückwärtsfahren einfach zu behaupten. Es müssen zumindest Tatsachen vorgetragen werden, die das Rückwärtsfahren ernsthaft möglich machen. Solche Anhaltspunkte sind hier jedoch nicht benannt worden. Allein die Aussage der Ehefrau genüge dabei nicht, wenn der Vordermann das bestreitet. Somit bleibt der Verlauf ungeklärt - und dies führt dazu, dass der Anscheinsbeweis nicht entkräftet werden kann. In diesem Fall lag somit ein Verstoß gegen § 4 Straßenverkehrsordnung (StVO) vor, der so schwer wog, dass der Auffahrende allein zu haften hatte.
Hinweis: Der Anscheinsbeweis setzt Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Bei einem Auffahrunfall kann der Anschein gegen den auffahrenden Hintermann sprechen, dass dieser entweder unaufmerksam war (§ 1 Abs. 1 StVO) oder aber nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO).
Quelle: LG Hamburg, Urt. v. 14.11.2022 - 331 S 14/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- Erster Anschein oder Sichtfahrgebot? Wer die geöffnete Fahrertür weit in die Gegenfahrbahn ragen lässt, trägt überwiegende Haftung
Mit einem sogenannten "Dooring"-Unfall der etwas anderen Art war im Folgenden das Landgericht Saarbrücken (LG) befasst. Hierbei handelte es sich nicht etwa um einen Radfahrer, der durch das unvorsichtige Öffnen einer Autotür zu Schaden kam, sondern um einen Unfall zweier Autofahrer. Deren Versicherungen waren nämlich unterschiedlicher Auffassung, wer die Schäden zu verantworten hatte, nachdem eine Fahrerin in die weit geöffnete Fahrertür des anderen auf der Gegenfahrbahn gefahren war.
Der Autofahrer hielt bei Dunkelheit am Fahrbahnrand an und öffnete seine Fahrertür, die dann bis in die Mitte der Gegenfahrbahn hineinragte. Er hatte das Standlicht und die Innenbeleuchtung eingeschaltet. Da das geparkte Fahrzeug hinter einer Kuppe stand, fuhr die ihm auf der Gegenfahrbahn entgegenkommende Frau in die Tür hinein. Nun verlangten beide Beteiligten Schadensersatz - doch beide Versicherer verweigerten die Zahlung. Auf der einen Seite verwies die Versicherung des Parkenden auf das sogenannte Sichtfahrgebot, wonach den Lichtverhältnissen entsprechend so langsam gefahren werden muss, dass Hindernisse rechtzeitig erkannt werden können. Auf der anderen Seite war die Versicherung der Ansicht, dass das so weite Öffnen einer Tür bei Dunkelheit und hinter einer Straßenkuppe grob verkehrswidrig sei.
Das LG teilte durchaus die Ansicht der Versicherung der Frau, dass der Türöffner überwiegend hafte - aber in diesem Fall zu 2/3 und nicht zu 100 %. Denn es sei nach dem ersten Anschein zutreffend, dass eine in die Gegenfahrbahn hineinragende Tür als hauptursächlich für eine solche Kollision angesehen werden muss, noch dazu, wenn das Fahrzeug hinter einer Kuppe steht. Dennoch trifft auch die andere Beteiligte hier ein Mitverschulden. Wenn sie die gesamte Fahrbahnbreite ausgenutzt hätte, wäre sie an dem Hindernis vorbeigekommen. Daher sei erwiesen, dass sie entweder aus Unachtsamkeit oder wegen Verstoßes gegen das Sichtfahrgebot gegen die Tür gefahren sei. Also hafte sie zu 1/3 mit.
Hinweis: Nach § 14 Abs. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) müssen sich Ein- bzw. Aussteigende so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Diese Sorgfaltsanforderung gilt für die gesamte Dauer eines Ein- oder Aussteigevorgangs - also für alle Vorgänge, die in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang damit stehen, bis hin zum Schließen der Fahrzeugtür nach dem Wiedereinstieg und dem Verlassen der Fahrbahn. Die Sorgfaltspflicht des § 14 Abs. 1 StVO beschränkt sich dabei auch nicht ausschließlich auf solche Vorgänge, bei denen sich durch das unvorsichtige Öffnen einer Fahrzeugtür ein Überraschungsmoment für andere Verkehrsteilnehmer ergibt. Wird beim Ein- oder Aussteigen ein anderer Verkehrsteilnehmer geschädigt, spricht insoweit schon der Beweis des ersten Anscheins für eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Ein- oder Aussteigenden.
Quelle: LG Saarbrücken, Urt. v. 11.11.2022 - 13 S 23/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- Trotz Zweit- und Drittwagen: Berechtigter Nutzungsausfall für verunfallten Bentley
Auf den ersten Blick mutet der Ausgang dieses Falls vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) unverschämt an. Denn wer neben seinem verunfallten Luxuswagen noch über einen weiteren und zudem über ein Mittelklassefahrzeug verfügt, sollte die Versicherung doch nicht unnötig schröpfen dürfen, oder? Genau deshalb lohnt sich auch immer ein zweiter, etwas nüchterner Blick auf den Sachverhalt. Lesen Sie selbst.
Bei einem Verkehrsunfall wurde der Bentley des Klägers beschädigt. Neben dem Bentley besaß der Kläger noch einen straßentauglichen McLaren sowie einen heruntergekommenen 3er BMW. Dennoch verlangte der Mann von der eintrittspflichtigen Haftpflichtversicherung Nutzungsausfall für den Zeitraum vom 13.01. bis 31.03. Er trug vor, dass der McLaren keine Winterreifen habe. Zudem hätte der BMW erst repariert und mit Winterreifen ausgestattet werden müssen, um nutzbar zu sein. Pro Tag verlangte der Geschädigte daher einen Nutzungsausfall von 175 EUR.
Und in der Tat sprach das OLG dem Geschädigten Nutzungsausfall für 77 Tage zu. Es wies darauf hin, dass der Bentley nach dem Unfall nicht mehr verkehrssicher war. Der Geschädigte hatte auch nicht gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen, nur weil er über einen Zweitwagen verfüge. Notwendig ist in erster Linie, dass es sich dabei um einen fahrtüchtigen Wagen handelt und die Benutzung dieses Fahrzeugs dem Geschädigten zuzumuten ist. Dies war weder beim BMW noch beim McLaren der Fall. Beim McLaren handelt es sich in erster Hinsicht um einen Sportwagen mit erheblichen Laderaumbeschränkungen, der zudem nicht mit Winterreifen, sondern mit sogenannten Semi-Slik-Reifen ausgestattet war. Dieses Fahrzeug ist für Alltagsfahrten in den Wintermonaten schlichtweg nicht geeignet. Auch beim BMW konnte der Senat nicht feststellen, dass das Fahrzeug fahrbereit gewesen sei, da die Kupplung an der Verschleißgrenze war. Zudem verfügte auch dieses Fahrzeug nicht über Winterreifen. Der Kläger war auch nicht verpflichtet, den BMW während des Ausfalls des Bentleys zu reparieren - auch aus dem Grund, weil für den Kläger zu keinem Zeitpunkt vorauszusehen war, wie lange die Reparatur dauern würde.
Hinweis: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht ein Anspruch auf Entschädigung für den Fortfall der Nutzungsmöglichkeit von Kraftfahrzeugen. Die Gebrauchsmöglichkeit eines Kraftfahrzeugs stellt grundsätzlich ein vermögenswertes Gut dar und ist als geldwerter Vorteil anzusehen, so dass sich bei vorübergehender Entziehung ein Vermögensschaden ergeben kann.
Quelle: Hanseatisches OLG, Urt. v. 28.10.2022 - 14 U 168/21(aus: Ausgabe 02/2023)
- Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Verweigerung einer Fitnessstudiomitgliedschaft aus nachweislich ethnischen Gründen wird teuer
Dieser Fall sorgte für Aufsehen - und zwar zu Recht. Einer Frau wurde die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio unter fadenscheinigen Gründen verweigert. Da die Frau jedoch nicht zum ersten Mal mit Vorurteilen ihres Nachnamens wegen konfrontiert war, wusste sie sich zu helfen. Daher landete das Ganze vor dem Amtsgericht Neumünster (AG), und dieses wies den Betreiber des Studios ganz sportlich in seine Schranken.
Ein Fitnessstudio warb auf Plakaten, in der Presse und im Internet intensiv für eine Mitgliedschaft mit einem dreiwöchigen kostenlosen Probetraining. Eine Frau meldete sich daraufhin und wollte Mitglied werden. Sie stellte sich mit ihrem Nachnamen vor, der als ein Familienname deutscher Sinti verbreitet und bekannt ist. Ein Mitarbeiter erklärte daraufhin, er müsse wegen ihrer Aufnahme zunächst Rücksprache halten, und teilte der Frau sodann mit, dass eine Aufnahme nicht möglich sei - die aktuelle Corona-Verordnung erlaube nur eine begrenzte Mitgliederzahl. Daraufhin erkundigte sich die Frau und stellte fest, dass es keine Obergrenze für Mitglieder in Fitnessstudios gäbe. Schließlich bat sie zwei Freundinnen, sich im Fitnessstudio anzumelden. Beiden wurde die Aufnahme ohne jede Einschränkung angeboten. Da erfuhr die Frau, dass das Fitnessstudio bereits in der Vergangenheit Verwandte mit ihrem Familiennamen als Mitglieder abgelehnt hatte. Daraufhin verlangte sie eine Entschädigungszahlung in Höhe von 1.000 EUR wegen eines Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und klagte - erfolgreich.
Nach dem AGG ist es unzulässig, Personen in Bezug auf den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, aufgrund ihrer ethnischen Herkunft zu benachteiligen. Ist eine hiernach unzulässige Benachteiligung erfolgt, kann der Benachteiligte den Ersatz des ihm hierdurch entstandenen Schadens verlangen. Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann er eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Das war hier der Fall gewesen. Auch die geltend gemachte Höhe über 1.000 EUR war in Augen des AG moderat und nicht überhöht.
Hinweis: Nicht nur am Arbeitsplatz ist die Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft verboten. Das zeigt dieser Fall deutlich. Betreiber entsprechender Einrichtungen sollten ihre Mitarbeiter klar darauf hinweisen, dass Benachteiligungen nicht geduldet werden dürfen.
Quelle: AG Neumünster, Urt. v. 18.11.2022 - 39 C 305/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- Befürchteter Datenmissbrauch: Ersatzforderungen auch nach Scraping nur nach konkret entstandenem Schaden möglich
Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) brachte viele Unsicherheiten, aber vor allem auch das Versprechen größerer Datensicherheit mit sich. Noch Jahre später scheinen viele sensibilisiert, wenn es um die Verwendung persönlicher Daten angeht. Zu Recht, denn wenn persönliche Daten missbraucht werden, haben Geschädigte einen Anspruch auf Schadensersatz. Ob bei aller Vorsicht und berechtigter Skepsis jedoch bereits Ängste vor Datenmissbrauch ausreichen, um einen solchen Anspruch geltend machen zu können, musste hier das Landgericht Gießen (LG) beantworten.
Ein Mann hatte im Rahmen einer Registrierung im Internet seinen Vornamen, Nachnamen, sein Geburtsdatum und sein Geschlecht angegeben. Die Mitteilung einer Handynummer war zwar nicht zwingend erforderlich, trotzdem hatte der Mann sie auch angegeben. Dann sammelten Dritte unter Nutzung automatisierter Verfahren eine Vielzahl der auf der Plattform des Unternehmens verfügbaren öffentlichen Informationen (sogenanntes "Scraping"). Diese Scraper fügten sodann den öffentlich zugänglichen Informationen aus dem betreffenden Profil des Nutzers die mit dem Konto verknüpfte Telefonnummer hinzu. Im April 2021 wurden die gescrapten Datensätze von über 500 Mio. Nutzern sowie die mit diesen Datensätzen verknüpften Telefonnummern frei zum Download bereitgestellt - auch die immer öffentlich zugänglichen Profilinformationen des Mannes und die mit seinem Konto verknüpfte Telefonnummer. Der Mann behauptete nun, das Unternehmen habe keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um ein Abgreifen seiner Daten zu verhindern. Dass eine automatisierte Massenabfrage möglich war, stelle eine Sicherheitslücke dar. Er habe einen erheblichen Kontrollverlust über seine Daten erlitten und leide unter großem Unwohlsein und Sorgen, da er einen Missbrauch befürchte. Schließlich klagte er einen immateriellen Schadensersatz in Höhe von 1.000 EUR ein.
Die Klage wurde vor dem LG jedoch abgewiesen. Nach Auffassung des Gerichts reicht ein bloßer Verstoß gegen Vorschriften der DSGVO nicht aus, um bereits Schadensersatz verlangen zu können. Es bedarf vielmehr der Darlegung eines konkreten Schadens. Allerdings sei es dabei nicht erforderlich, dass der eingetretene Schaden erheblich ist - auch Bagatellschäden seien ersatzfähig!
Hinweis: Aus dem Urteil muss gefolgert werden, dass es grundsätzlich einen Schadensersatzanspruch geben kann. Nur dann müssen die persönlichen Schäden auch genau und in allen Einzelheiten dargestellt werden.
Quelle: LG Gießen, Urt. v. 03.11.2022 - 5 O 195/22(aus: Ausgabe 02/2023)
- Einzahler trägt Beweislast: Wer am Automaten Geld einzahlt, geht nur durch Anwesenheit von Zeugen auf Nummer sicher
Sollte sich der folgende Fall tatsächlich so zugetragen haben, wie der Geschädigte behauptete, ist das Ganze wahrlich ein wirtschaftlicher Alptraum. Da Geld aber meist nur den Besitzer wechselt, sich dabei aber nicht gänzlich in Luft auflöst, musste sich das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) hier an die handfesten Fakten, die auf vorhandenen Geldscheinen fußten, halten. Und diese besagten, dass sich in einem "streikenden" Geldautomaten gut 9.500 EUR weniger befanden, als eingeklagt wurden.
Ein Mann hatte Bargeld an einem Geldautomaten eingezahlt. Dieser nahm die Geldnoten auf, schloss den Einzahlungsbehälter und begann mit dem Verarbeitungsvorgang. Dann wurde dieser Vorgang jedoch plötzlich abgebrochen - es erschien auf dem Display des Automaten der Wortlaut "Außer Betrieb". Am Folgetag wurde der Automat repariert. Dabei fanden die Mitarbeiter 300 EUR in der sogenannten Retract-Kassette und 3.850 EUR im automateninternen Transportweg. Die in der Retract-Kassette vorgefundenen 300 EUR wurden später einem weiteren abgebrochenen Einzahlungsvorgang einer anderen Kundin der Bank zugeordnet. Die auf dem Transportweg vorgefundene Summe von 3.850 EUR wurde dem Einzahlungsvorgang des Klägers zugeordnet und dessen Konto gutgeschrieben. Nun aber behauptete der Mann, er habe an dem besagten Tag Bargeld in Höhe von insgesamt 13.325 EUR eingelegt, den Verkaufserlös eines Motorrads. Er war der Ansicht, dass die Bank für die Fehlerhaftigkeit des Automaten einzustehen habe, und klagte.
Die Klage wurde vor dem OLG jedoch abgewiesen. Die Darlegungs- und Beweislast für den Umstand, dass ein Bankkunde an einem Geldautomaten eine Bareinzahlung in der von ihm behaupteten Höhe überhaupt ausgelöst bzw. den Zahlungsauftrag mit dem von ihm behaupteten Inhalt erteilt hat, liege beim Einzahler. Da der Mann als Einzahler jedoch nicht beweisen konnte, in welcher Höhe er Geld in den Automaten gesteckt hatte, hat er seine Klage verloren.
Hinweis: Wer sichergehen will, sollte die Einzahlung in Gegenwart eines Zeugen vornehmen. Dieser Zeuge muss in einem späteren Verfahren dann aussagen können, wie viel Geld tatsächlich eingezahlt wurde. Das ist zwar nicht sehr praxisnah, jedoch die einzige Möglichkeit, um wirklich auf Nummer sicher zu gehen.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Urt. v. 18.10.2022 - 4 U 217/21(aus: Ausgabe 02/2023)
- Tückische Traube: Stürzt eine Kundin, liegt die Beweislast zur erfüllten Sorgfaltspflicht laut BGH beim Warenhaus
Mit der Beweispflicht ist es so eine Sache. Denn naturgemäß fällt es in vielen lebensnahen Bereichen oftmals schwer, im Nachhinein klare Fakten auf den Richtertisch zu legen, die das eigene Verhalten als korrekt und das der Gegenseite als fehlerhaft darlegen. Da Gerichte sich aber nicht auf subjektive Aussagen verlassen dürfen, müssen Tatsachen für sich sprechen. Im Fall eines Sturzes in einem Kaufhaus hatte der Bundesgerichtshof (BGH) seine Zweifel über die Bewertung durch die Vorinstanzen und stellte die Beweislast für solche Fälle in seinem Urteil klar.
Eine Frau behauptete, im Erdgeschoss eines Kaufhauses vor dem Pflanzenbereich aufgrund einer auf dem Boden liegenden Weintraube ausgerutscht und gestürzt zu sein. Das Kaufhaus habe es ihrer Ansicht nach versäumt, für eine hinreichende Reinigung des Sturzbereichs zu sorgen. Daher verlangte die Kundin nun auch Schadensersatz und Schmerzensgeld.
In den ersten beiden Instanzen hat sie zwar verloren, doch die Beharrlichkeit der Frau zahlte sich vor dem BGH aus. Denn dieser hob das Urteil auf und verwies die Angelegenheit an die Vorinstanz zurück. Stürzt ein Kunde aufgrund einer Verunreinigung des Bodens in einem Warenhaus, muss nämlich der Inhaber beweisen, dass von ihm und seinen Mitarbeitern alle Sorgfaltspflichten erfüllt wurden, um einen solchen Vorfall zu vermeiden. Das Kaufhaus hätte hier also beweisen müssen, dass von ihm die zur Vermeidung von Unfällen erforderlichen Organisations- und Überwachungsmaßnahmen getroffen worden sind und dass auch seine Mitarbeiter alle nach Lage der Sache erforderliche Sorgfalt bei der Ausübung der ihnen übertragenen Pflichten beachtet hatten. Insoweit verbleibende Zweifel gingen daher zu Lasten des Kaufhauses, das diesbezüglich nun die Vorinstanz den Vorgaben gemäß zu überzeugen hat.
Hinweis: Nach den nun aufgestellten Grundsätzen des BGH dürfte es noch schwieriger für ein Warenhaus oder einen Supermarkt werden, nicht haften zu müssen. Das wiederum dürfte für Geschädigte sehr gut sein.
Quelle: BGH, Urt. v. 25.10.2022 - VI ZR 1283/20(aus: Ausgabe 02/2023)
- Wettbewerbsverstoß: Weitere Nutzung des Girokontos stellt keine automatische Zustimmung zu neuen Vertragsbedingungen dar
Viele Banken und Sparkassen versuchen seit Monaten, ihre neuen Geschäftsbedingungen durchzusetzen. So einfach wie die Genossenschaftsbank dieses Falls können es sich die Kreditinstitute allerdings nicht machen. Denn einem solchen Geschäftsgebaren stehen den Instituten die Gerichte im Weg - so wie hier das Landgericht Hannover (LG).
Eine Genossenschaftsbank hatte Mitte 2022 ihre Kunden schriftlich zur ausdrücklichen Zustimmung zu den neuen Vertragsbedingungen aufgefordert. Die Kunden, die darauf nicht reagiert hatten, erhielten daraufhin ein weiteres Schreiben, in dem die Genossenschaftsbank ihnen mitteilte, dass sie die künftige Nutzung des Kontos als Zustimmung werten würde. Dies gelte bei Überweisungen, Abhebungen am Automaten oder bargeldlosen Zahlungen. Von diesem Geschäftsgebaren erhielt der Dachverband der Verbraucherzentralen Kenntnis. Er zog gegen die Genossenschaftsbank mit Unterlassungsansprüchen vor Gericht - und das mit Erfolg.
Das Vorgehen der Bank stellte auch in Augen des LG einen eindeutigen Wettbewerbsverstoß dar. Es verstieß außerdem gegen grundlegende vertragsrechtliche Prinzipien und benachteiligte Verbraucher unangemessen. Durch die Nutzung ihres Kontos stimmt die Bankkundschaft daher nicht automatisch den Vertragsänderungen zu.
Hinweis: Die weitere Nutzung des Kontos stellt also keine Zustimmung zu neuen Vertragsbedingungen dar. Wer Vertragsbedingungen ändern möchte, benötigt dafür die Zustimmung des anderen Vertragspartners.
Quelle: LG Hannover, Urt. v. 28.11.2022 - 13 O 173/22(aus: Ausgabe 02/2023)